Wir dokumentieren an dieser Stelle unseren Redebeitrag in Erinnerung an die Shoah-Überlebende Celine van der Hoek de Vries auf der Kundgebung zum 70. Jahrestag der Befreiung in Münster am 8.5.2015:
Liebe Freundinnen und Freunde,
wir sind heute hier, um zusammen mit euch den 70. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus zu begehen. Der 8. Mai ist der Tag, an dem mit der bedingungslosen Kapitualtion der deutschen Wehrmacht auch der unvorstellbare Massenmord der Nazis sein militärisch erzwungenes Ende fand. Nach 12 Jahren, in denen die Nazis in Deutschland an der Macht waren und nach 6 schier unendlich langen Kriegsjahren lag Europa im Frühjahr 1945 in Schutt und Asche. Schätzungsweise 55 Millionen Menschen haben im Zuge des deutschen Vernichtungskrieges ihr Leben verloren. Die Freude und Erleichterung bei all jenen, die dagegen Widerstand geleistet und/oder unter den deutschen Verbrechen gelitten hatten, muss am 8. Mai 1945 riesig gewesen sein.
Unser Dank gilt heute entsprechend all jenen, die zum Sieg über Nazideutschland beigetragen haben, wobei neben den Widerstandskämpferinnen und -kämpfern, den Partisaninnen und Patrisanen und den alliierten Armeen vor allem die Kämpfer und Kämpferinnen der Roten Armee zu nennen sind, die unter großen Verlusten die Wehrmacht zurückschlugen, das Vernichtungslager Auschwitz befreiten und letztendlich mit der Einnahme von Berlin das Ende des dritten Reiches besiegelten.
Vor 7 Jahren – am 8. Mai 2008 – haben wir an dieser Stelle – hier vorm Zwinger – den Tag der Befreiung gemeinsam mit der Shoah-Überlebenden Celine van der Hoek de Vries in Münster gefeiert.
Celine van der Hoek de Vries wurde 1920 in Amsterdam geboren und wuchs in einem sozialistischen Elternhaus auf. Nachdem sie die Mittelschule abgeschlossen hatte wurde sie Erzieherin. Nach der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen am 10. Mai 1940 konnte sie als Jüdin jedoch nicht weiter in diesem Beruf arbeiten. Als ihre Mutter und ihr Bruder verhaftet wurden gelang es Celine unterzutauchen. Sie lebte einige Zeit im Untergrund bevor sie verhaftet und in das Sammellager für die Amsterdamer Jüdinnen und Juden, die “Hollandse Schouwburg”, gebracht wurde. Zwar konnte sie durch die Hilfe eines Bekannten fliehen und wieder untertauchen, wurde jedoch verraten und erneut in der “Hollandse Schouwburg” inhaftiert. Später wurde sie im Konzentrationslager Westerbork an der niederländisch-deutschen Grenze inhaftiert und von dort im September 1944 nach Auschwitz deportiert. Von ihrer Deportation berichtete Celine auch in ihren Zeitzeuginnengesprächen:
Das waren alte Menschen, Männer und Frauen, junge Männer, junge Frauen, insbesondere auch viele Mütter mit Kindern. Sicher 80 Menschen in jedem Abteil. Darin sind wir 2 Tage gefahren. Alles war dicht gemacht worden, nur oben gab es ein kleines Stück Glas, da konnte man rausgucken. Kein Essen, kein Trinken – es war fürchterlich, was wir mitgemacht haben.
In diesen Wagen waren nur Juden. Vor den Viehwagen fuhr ein normaler Zug mit der SS drin. Eine Flucht war nicht möglich. Ein Mädchen ist geflohen – nicht bei uns, aber in einem anderen Wagen. Die hat das Holz kaputt gemacht und sind zu zweit rausgekommen. Eine hat es nicht überlebt und die andere konnte flüchten. Aber bei uns hat das niemand gemacht. Sie war die Einzige.
…
Und nach 2 Tagen wird es (der Wagen) aufgemacht und da wurde gerufen: „Saujuden – wir sind in Auschwitz!“
Vor uns standen die Kapos – wißt ihr wer Kapos waren? Das waren Gefangene aus verschiedenen Ländern in Diensten der SS und die mussten uns – insbesondere die Männer – aus diesem Zug prügeln.Dann sind wir rausgekommen. Es (die Kante) war sehr hoch. Das war natürlich für eine Kuh, aber nicht für einen Menschen eingerichtet. Wir Jungen sind rausgesprungen – wir konnten das machen. Und die Männer wurden fürchterlich geschlagen. Als sie draußen standen, bemerkten wir, dass von uns nur noch 40 oder 45 übrig waren. Der Rest war tot, insbesondere viele Ältere und viele Babys und kleine Kinder. Die waren in der Bahn einfach erstickt.
Mit viel Glück überlebte Celine als eine der Wenigen das Vernichtungslager, in dem zuvor ihre Angehörigen ermordet wurden. Im Dezember 1944 wurde sie in ein Lager der deutschen Rüstungsindustrie deportiert, wo sie schwerste Zwangsarbeit verrichten musste. Völlig entkräftet wurde sie dort 1945 befreit.
Celine hat uns mehrfach in Münster besucht. An Schulen und bei Abendveranstaltungen hat sie uns und vielen anderen ihre Geschichte erzählt. Die Jugendgeschichtswerkstatt Münster reiste zu ihr nach Amsterdam und drehte einen kurzen Film über Celine. Zweimal organisierten wir Gedenkstättenfahrten nach Amsterdam und besuchten Celine dort. Sie zeigt uns Orte ihrer Geschichte wie die „Hollandse Shouwburg“ und das Konzentrationslager Westerbork. Ihre eindrücklichen Schilderungen haben uns immer tief bewegt. Sie zeigte uns auch das Hafenarbeiterdenkmal am Jonas Daniël Meijer Platz. Dieses Denkmal erinnert an den Generalstreik vom 25. Februar 1941 gegen die deutsche Besatzungspolitik. Im folgenden schildert Celine die Hintergründe dieses Massenprotests:
Was haben die Arbeiter gemacht? Die nicht jüdischen Arbeiter – hauptsächlich Kommunisten – die haben dagegen einen Streik organisiert. Die waren so böse, dass die Juden so mißhandelt wurden, dass sie geschlagen wurden – soweit mir bekannt ist, gab es auch zwei Tote.
Es wurde ein großer Streik organisiert. Da hat auch jeder mitgemacht, man kann wirklich sagen es war ein allgemeiner Streik – ein Generalstreik. Amsterdam liegt in Nord-Holland und mehr als die Hälfte der Provinz Nord-Holland hat mitgestreikt. Alle öffentlichen Verkehrsmittel fuhren nicht mehr, alle Geschäfte waren geschlossen – kein Mensch hat mehr gearbeitet. Das ging beinahe bis nach Utrecht.Das war für die deutsche Wehrmacht ein Schock. Nach 2 Tagen war das vorbei – länger konnte man das nicht machen. Dann haben die Deutschen ihre Rache genommen und haben erst die Leute, die das organisiert haben, erschossen. Und 400 Juden – junge Männer, Frauen und Kinder nicht – haben sie von der Straße weggeholt und nach Mauthausen gebracht.
Mauthausen liegt in Österreich. Da haben sie im Steinbruch gearbeitet. Und von denen ist keiner mehr zurück gekommen. Nach 2,3 Tagen waren sie alle ermordet worden. Das war das erste mal, dass das (in den Niederlanden) passiert ist.
Mit Schilderungen wie dieser kämpften und kämpfen Celine und andere Überlebende der Shoah gegen eine Erinnerungskultur, die – vor allem in Deutschland – von dem Wunsch nach Verdrängen und Vergessen geprägt war und ist. Sie, die die Verbrechen des NS miterlebt und erlitten haben, machen in ihren Erzählungen und Vorträgen Geschichte auf eindrückliche Art und Weise erfahrbar. Ihre authentischen Zeugnisse können nicht einfach verleugnet werden. Sie bieten vor allem jüngeren Menschen Identifikationspunkte, machen Unvorstellbares greifbar und schlagen so eine Brücke zwischen den Generationen.
Sie mahnen uns Nachgeborene, für die es auch heute kaum vorstellbar ist, dass vor gerade einmal siebzig Jahren eine Ideologie von so vielen Millionen Deutschen begeistert getragen und zur Staatsdoktrin erhoben wurde, welche Menschen das Recht auf Leben absprach und im kaltblütigen Mord an Millionen von Menschen mündete. Celine bezeichnete diese Form des Erinnerns und Mahnens immer wieder als ihren Auftrag:
Ich erzähle die Sachen, die ich euch jetzt erzähle – und das mache ich in verschiedenen Schulen – nicht umsonst: Ich habe einen Auftrag hierfür. Und dieser Auftrag ist, dass man niemals vergessen soll, zu erzählen.
Und das ist es, was ich mir eigentlich wünsche. Dass die jungen Menschen von jetzt/heute (Bescheid) wissen. Dass es nicht mehr passieren kann. Die wissen jetzt, was passiert ist. Man hat ihnen das erzählt. Sie können nicht sagen, wir haben es nicht gewusst. Das will ich sagen.
Wir sind die letzte Generation, die diese Zeitzeugen und Zeitzeuginnen persönlich getroffen hat. In naher Zukunft wird es niemanden mehr geben, der/die von persönlichen Erlebnissen aus der Zeit des NS berichten kann. Es wäre jedoch fatal, wenn mit dem Tod der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen auch ihre Erinnerungsarbeit enden würde. Mit dem Sieg der Alliierten sind Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, Antiziganismus und andere Formen der Diskriminierung nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden. Dies wird uns aktuell nur allzu häufig schmerzlich bewusst. Wir, die die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen getroffen und ihnen zugehört haben, sind nun selber Zeugen und Zeuginnen. Als Zweitzeugen und Zweitzeuginnen obliegt es nun uns, der teils im erinnerungspolitischen Diskurs stattfindende Verklärung der Shoah zu einem Verbrechen von vielen in der Menschheitsgeschichte entgegen zu wirken.
Wir wollen deshalb versuchen, Celines Geschichte weiter zu geben und ihre Botschaft weiter zu tragen. Enden möchten wir mit Celines Worten an uns bei ihrem letzten Zeitzeuginnengespräch hier in Münster:
Überall fängt der Rassismus wieder an – und auch der Faschismus. Und ich sage immer: Kämpft dagegen. Ich hoffe, dass das was ich euch erzählt habe – es ist nicht umsonst gewesen, dass es ich es erzählt habe.
Antifaschistische Linke Münster am 8.5.2015
Quellen:
- „…dass man niemals vergessen soll, zu erzählen“ – Mitschnitt eines Zeitzeuginnen-Gesprächs mit Celine van der Hoek de Vries vom 28.11.2009
- Rede von Celine van der Hoek de Vries am 8. Mai 2008 in Münster
- „They cannot say: We didn’t know about it“ – Film der Jugendgeschichtswerkstatt Münster über Celine van der Hoek de Vries
- „Für immer Antifaschistin“ – unser Nachruf auf Celine van der Hoek de Vries