Es ist ein Angriff auf uns alle! Neue Informationen zum rassistischen Übergriff in Havixbeck

Knapp drei Wochen nach dem rassistischen Messerangriff auf einen 31-jährigen in Havixbeck bei Münster liefern Recherchen des WDR neue Informationen zur Tat. Einige Fragen klären sich nun, die dringendsten bleiben jedoch weiterhin unbeantwortet. Deutlich wird vier Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, wie unterschiedlich rechte Gewalt immer noch wahrgenommen und bewertet wird, wenn die Opfer vermeintlich Fremde sind.

Die Verletzung und ihre Folgen
Der WDR hatte Gelegenheit, mit dem 31-jährigen Familienvater zu sprechen, der bei dem Angriff schwer verletzt wurde. Dieser lässt sich mittlerweile anwaltlich vertreten und wird somit im Prozess aktiv für seine Interessen eintreten. Im Interview äußert er sich zur Schwere der Verletzungen und den Spätfolgen des Angriffs, die ihn heute noch beeinträchtigen.
Dabei bestätigt sich die Angaben der Polizei: Die Verletzung an sich war im Resultat nicht akut lebensgefährlich. Der Angriff an sich war jedoch lebensgefährlich – und dieses Detail erwähnten die Ermittlungsbehörden nicht. Laut dem behandelnden Arzt hätte die Klinge das Herz getroffen, wenn sie nur einen Zentimeter tiefer in den Brustkorb eingedrungen wäre. Das drastische Foto der Stichverletzung zeigt die Absicht hinter dem Angriff sehr eindringlich.

Die Logik der Ermittlungsbehörden
Der Bericht gibt auch Aufschluss darüber, warum Polizei und Staatsanwaltschaft Münster die Tat dennoch nicht als versuchten Totschlag, sondern lediglich als gefährliche Körperverletzung werten. Die Ermittlungsbehörden gehen laut NRWs Justizminister Kutschaty davon aus, dass in diesem Fall ein Rücktritt von der Tat gemäß §24 StGB vorliegt.
Auch die Ermittler*innen werten den Angriff somit als Versuch eines Totschlags, d.h. sie unterstellen, dass der Täter den Tod des Opfers zumindest billigend in Kauf genommen hat. Fraglich ist, warum diese Annahme bislang von den ermittelnden Behörden nirgends erläutert wurde? Stattdessen wurde ausschließlich von einer gefährlichen Körperverletzung und nicht lebensgefährlichen Verletzungen gesprochen, der Angriff damit verharmlost.
Zudem existieren für das Vorliegen eines Rücktritts von der Tat einige Voraussetzungen, die eine Anwendung des Konstrukts bereits im Ermittlungsverfahren eher außergewöhnlich machen. So müssen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Täter freiwillig und nicht aufgrund äußerer Umstände von der Tat zurückgetreten ist. Die Tat in Havixbeck geschah unter Zeug*innen. Es ist fraglich, ob es also wirklich keinerlei Intervention durch Dritte gab. Darüber hinaus wäre für einen Rücktritt auszuschließen, dass der Täter nicht davon ausging, dass seine Tat nach dem Messerstich bereits vollendet war. Angesichts eines Messers, dass tief in der Brust des Opfers steckt, keine offensichtliche Interpretation der Lage. Es ist gut möglich, dass der Täter davon ausging, dass er sein Opfer bereits tödlich verletzt hatte.
Das Aussageverhalten des Täters ist ebenfalls extrem wichtig für die Frage nach einem Rücktritt von der Tat. Hierzu sind bislang jedoch keine Informationen bekannt.
Festzuhalten bleibt, dass die Ermittlungsbehörden bereits im Anfangsstadium der Ermittlungen dem Täter mit maximalem Wohlwollen gegenüber treten und alle juristischen Möglichkeiten nutzen, um die Tat nicht als Tötungsversuch werten zu müssen.

Zweierlei Maß? Die Parallelen zum Attentat auf Henriette Reker
In der Berichterstattung wurde immer wieder die Frage nach Parallelen zum Mordversuch an der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker durch einen rechten Attentäter aufgeworfen. Hier zeigt sich entgegen aller Beteuerungen von Justizminister Kutschaty, dass es sehr wohl Unterschiede im Umgang mit den beiden rassistisch motivierten Gewalttaten gibt, welche sich nicht mit den Details der jeweiligen Tat erklären lassen.
Das Attentat auf Henriette Reker sorgte bundesweit für Bestürzung. Unzählige Menschen zeigten sich solidarisch, die Medien verurteilten die Tat scharf. Der Angriff wurde einhellig als das benannt, was er war: Ein Mordversuch. Auch der Staat reagierte: Die Bundesanwaltschaft übernahm die Ermittlungen in dem Fall. Begründet wurde dies mit der Schwere der Tat und der mit ihr angestrebten Signalwirkung. Dies Übernahme war ein klares Symbol: Der Rechtsstaat demonstrierte seine ganze – vermeintliche – Entschlossenheit und Stärke.
Im Fall von Havixbeck passierte nichts dergleichen. Polizei & Staatsanwaltschaft spielten den Fall herunter, anstelle von einem Tötungsversuch wurde nur von einer gefährlichen Körperverletzung gesprochen, der Täter blieb auf freiem Fuß. Eine mögliche Signalwirkung vor dem Hintergrund der immer weiter eskalierenden rechten Gewalt und dem kurz zuvor stattgefunden Angriff auf Henriette Reker wurde dem Angriff nicht zugesprochen. In den Medien reihte sich der Angriff – mit Ausnahme des WDR – als Randnotiz in die lange Liste rassistischer Übergriffe der letzten Jahre ein. Man muss fast erstaunt sein, dass zumindest die rassistische Motivation des Angriffs von Anfang an klar benannt wurde.

In den letzten Monaten gab es immer wieder Fälle, in denen die Ermittlungsbehörden gegenüber rechten Täter*innen erstaunlich wohlgesonnen auftraten. Rassistische Motive wurden zu „Verärgerung“ oder familiären Problemen umdeklariert. Kaltblütig geplante Anschläge wurden zu „bewusst gelegten Feuern“ oder vermeintlich unpolitischen Taten ohne Tötungsabsicht degradiert. Es erweckt den Anschein, als ob auch im Fall des Angriffs in Havixbeck eine solche Milde gegenüber einem rassistischen Täter waltet.

Wie erklärt sich die unterschiedlich Rezeption und Wertung der Taten? Ein Faktor: Henriette Reker ist Politikerin und stammt aus der weißen bürgerlichen Mitte. Der Angriff auf sie zeigte, dass rechte Gewalt nicht mehr nur die vermeintlich Fremden oder politische Aktivist*innen trifft. Die Erkenntnis, selbst zur Zielscheibe rechter Gewalt werden zu können, sorgte für persönliche Betroffenheit. Ein gutes Beispiel dafür liefert ein Kommentar in den Westfälischen Nachrichten vom 19.10.2015. Dort fragte sich der Kommentator ernsthaft ob nach den Angriffen auf Geflüchtete und den zahlreichen Brandstiftungen jetzt, d.h. mit dem Attentat auf Reker, eine „Eskalation in Taten“ bevorstünde. Danach folgte die bange Frage, ob sich jetzt auch Menschen, die sich für Geflüchtete einsetzen, vor rechter Gewalt fürchten müssen.

Ein Angriff auf uns alle
Wir kennen diese unterschiedliche Wahrnehmung, die mangelnde Solidarisierung mit migrantischen Opfern rechter Gewalt und ihre fatalen Folgen von der Mordserie des NSU. Auch vier Jahre nach dessen Selbstenttarnung müssen wir beobachten, dass bei Ermittlungsbehörden oftmals weiter mit zweierlei Maß gemessen wird und eine kritische öffentliche Auseinandersetzung mit dieser Praxis weitgehend fehlt. Es ist die Aufgabe von uns allen, diesen Zuständen entschlossen entgegen zu treten. Rassistische Gewalt muss als das benannt werden, was sie ist: Ein Angriff auf uns alle. Unabhängig davon, von wem sie ausgeht und gegen wen sie sich richtet.

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