Auf der antifaschistischen Vorabenddemo hielt die Antifaschistische Linke Münster folgenden Redebeitrag über die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrund“, der Rolle des Inlandsgeheimdienstes und die politischen Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind.
Liebe Freundinnen und Freunde,
wieder einmal stehen wir hier in Hamm, um ein deutliches Zeichen des antifaschistischen Widerstands gegen die Neonazis zu setzen. Der Anlass, der uns zusammen bringt, ist nicht sonderlich neu: Nazis aus Hamm und dem Münsterland planen einen Aufmarsch, diesmal nicht hier in Hamm, sondern in Münster. Immer dann, wenn Nazis an die Öffentlichkeit gehen um für ihre verbrecherischen Ideen zu werben, werden wir sie dabei stören. Daran wird sich auch nichts ändern. Neu ist die Situation dahingehend, dass wird uns nun treffen, nachdem im November die Mordserie des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds bekannt wurde. Fast 13 Jahre lang konnten Nazis ungehindert mordend durch die Republik ziehen – kaltblütig richteten sie zehn Menschen hin: Enver Simsek, Adurrahim Özüdogru, Süleymann Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodorus Boulgardis, Mehmet Kubasik und Halit Yozgut mussten sterben, weil sie in der rassistischen Weltsicht der Nazis kein Recht auf Leben haben. Weil sie Migranten waren. Ermordet wurde auch die Polizistin Michelle Kiesewetter. Bei zwei Bombenanschlägen in Köln wurden etliche Menschen verletzt. Das Motiv war auch hier: Rassismus.
Erst ein gescheiterte Banküberfall, zwei tote Neonazis und die Sprengung eines Hauses in Zwickau führten zum Bekanntwerden der Gruppe. In einem Video bekannte sich die Gruppe zu den Morden. Nach dem Bekanntwerden herrschte Fassungslosigkeit, Bestürzung und es kam die Frage auf: Wie konnte dies geschehen? Wie kann es sein, dass niemand die Nazis stoppte, dass niemand ein rechtes Motiv vermutete?
In Sicherheitskreisen und Politik setzte sich die Erzählung durch, man habe nie gedacht, dass Neonazis zum Ausbilden terroristischer Strukturen fähig wären. Überhaupt hätten die Naziterroristen auch nicht wie übliche Terroristen gehandelt, schließlich wurden nie Bekennerschreiben publiziert. Diese Aussagen sind Schutzbehauptungen, bestenfalls Ausdruck von Ignoranz und Unwissen, wie Neonazis agieren. Rechtsterrorismus gab es in der Bundesrepublik seit über 40 Jahren. Nur sind diese Taten nicht im öffentlichen Bewusstsein bekannt.
Der blutigste Anschlag geht auf das Konto von Nazis. Bei einem Bombenanschlag auf das Oktoberfest in München, verübt durch ein Mitglied der paramilitärischen Wehrsportgruppe Hoffmann, starben 1980 13 Menschen, 211 wurden verletzt. Vergessen sind auch die Anschläge der Deutschen Aktionsgruppe, die Ermordung des jüdischen Verlegers Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke. Immer wieder wurden Menschen gezielt ermordet. Dass auf Vernichtung zielende Gewalt den Kern des neonazistischen Weltbild ausmacht, das belegen auch die Anschläge auf Flüchtlingswohnheime Anfang der 1990er Jahre und die Pogrome in Mannheim, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Ist das alles schon vergessen?
Seit 1990 ermordeten Neonazis nach unabhängigen Zählungen 180 Menschen. Nur die Bundesregierung erkennt nur 50 Fälle als rechtsmotiviert an. Hier liegt ein Problem.
Der „Nationalsozialistische Untergrund“ hat keine Bekennerschreiben veröffentlicht, das ist richtig, aber für neonazistische Gewalt ist dies auch eher die Regel. Die Taten sollen sich selbst erklären. Zudem orientierten sich die Nazi-Mörder_innen recht genau an dem so genannten Field Manual von „Blood and Honour“, das forderte: Anschläge von kleinen Zellen gegen politische Gegnerinnen und Migrant_innen ohne Bekennungen durchzuführen, um eine Stimmung der Unsicherheit zu erzeugen. Dieses „Field Manual“ kursierte Ende der 1990er in der Nazi-Szene, besonders im „Blood and Honour“-Netzwerk und unter Freien Kameradschaften. Und aus genau dieser Szene stammen die Mörder_innen und die Unterstützer_innen. Sie alle kommen aus den Strukturen oder dem Umfeld des „Thüringer Heimatschutz“.
Oft ist deswegen vom „Versagen der Sicherheitsbehörden“ die Rede. Es ist unglaublich, dass niemand ernsthaft in Richtung Rechtsterrorismus ermittelt hat – und das über Jahre. Stattdessen ermittelte die Polizei in allen Fällen in Richtung „Mafia“, „Ausländerkriminalität“ und „Schutzgelderpressung“. Sie ermittelte auch dann immer noch nur in diese Richtung, als sie keine Beweise und Spuren für ihre These fand. Und sie gaben genau diese These an die Öffentlichkeit weiter und kriminalisierten so die Opfer und deren Angehörigen. Sonderkommissionen mit dem Namen „Bosporus“ oder der unsägliche Begriff „Döner-Morde“ verweisen auf vorurteilsbeladene Sichtweisen. Das Problem bei der Polizei ist ein institutionalisierter Rassismus, der handlungsbestimmend wurde.
Doch der Vorwurf Zusammenhänge nicht gesehen zu haben, trifft Medien, Politik und Zivilgesellschaft gleichermaßen. Auch die Antifa-Bewegung kann sich nicht davon freisprechen, die Darstellung der Morde durch die Behörden wurde nicht ernsthaft genug hinterfragt.
Wo das Versagen der „Polizei“ liegt, ist offensichtlich. Doch der wichtigere Akteur sind die Geheimdienste. Doch haben diese bloß versagt, weil sie die Gefahr nicht sahen? Oder sind die Verfassungsschutzbehörden nicht viel tiefer in der Sache verwickelt?
Die Mordsserie des NSU ist einer der größten Geheimdienstskandale – aber leider nicht der erste im Zusammenhang mit neonazistischer Organisation und Gewalt. Die Mörder_innen entstammen des „Thüringer Heimatschutzes“, einer militanten Nazikameradschaft, die in den 1990er gegründet und die von V-Leuten der Geheimdienste durchsetzt war. V-Leute sind Neonazis, die von den Verfassungsschutzbehörden oder dem Militärischen Abschirmdienst angeworben werden. Sie bekommen Geld für Informationen, die sie an die Behörden liefern. Wie viel sie preisgeben und was sie mit dem Geld machen, ist ihnen überlassen.
Einer der wichtigsten Personen des Thüringer Heimatschutz war Tino Brandt, der bis 2001 als V-Mann für das Thüringische Landesamt für Verfassungsschutz tätig war. Insgesamt soll er 200.000 Mark kassiert haben, die er zum Großteil der Szene zur Verfügung stellte. Brandt war nicht der einzige. Der Thüringische Inlandsgeheimdienst hatte in den 1990er ein Budget von 2 Millionen für V-Leute. Klar ist, ohne das Geld vom Staat hätte der „Thüringische Heimatschutz“ nicht in der Form aufgebaut werden können. Mehrere dieser V-Leute standen in Kontakt zu den drei 1998 untergetauchten Nazimörder_innen, sie halfen ihnen. Es sollen sogar 2000 DM vom VS gezahlt worden sein, damit sich die Untergetauchten gefälschte Pässe besorgen konnten. Der Geheimdienst war nah dran und tat nichts – zumindest nichts, was zur Ergreifung der Mörder_innen hätte führen können. Zur Unterstützung tat er hingegen allerhand. Es war dem Geheimdienst zeitweise bekannt, wo die Nazis waren, aber das Einschreiten der Polizei wurde aktiv unterbunden. Man hat sie laufen lassen. 2003 wurden dann sämtliche Asservaten von den drei Untergetauchten vernichtet, weil man behauptete, die Straftaten seien nach fünf Jahren verjährt. Nun fehlt zum Beispiel die Rohrbombe, die die Nazis 1998 gebaut haben und die Polizei sichergestellt hatte. Sie kann nicht mit den Bomben aus Köln verglichen werden.
Die Mordserie des NSU ist eine Geschichte der Vertuschung – in deren Zentrum das Landesamt für Verfassungsschutz Thüringen steht. Deren exzentrischer Chef ist ein ausgewiesener Linken-Hasser und publiziert nun, da er in Rente ist, Bücher in extrem rechten Verlagen. Auch andere Geheimdienste sind involviert. Beim Mordanschlag in Kassel saß erwiesenermaßen ein Verfassungsschutzagent im Tatort, einem Internetcafè. Er schritt nicht ein, er meldete sich nicht bei der Polizei. Die bis dato bekannt gewordenen Fakten lassen einen erschaudern, die Schlussfolgerungen sind gruselig: Nazis morden durch die Republik und Geheimdienste lassen sie gewähren.
Doch auch wenn wir mal annehmen, es waren wirklich nur „Pannen“, weist die Mordserie auf ein schwerwiegendes Problem hin: Und das ist das V-Leute-System. Die Liste der Skandale mit diesen bezahlten Nazi-Spitzeln ist lang. Der ehemalige Chef der NPD-NRW, der seit den 1960ern V-Mann war, sagte, ohne das Geld vom Geheimdienst wäre es nicht möglich gewesen, die NPD im Land aufzubauen. Neben dem Geld werden die Nazis durch Strafvereitlung unterstützt. Die Geheimdienste wollen ihre Quellen nicht gefährden, also schützen sie diese vor Strafverfolgung.
Wie 2007 in Lünen. Dort warnte der Geheimdienst einen V-Mann vor Ermittlungen durch das Drogendezernats. Der Neonazi Sebastian Seemann führte ein einträgliches Leben in der Halbwelt: Er dealte mit Koks, war an Waffenkäufen beteiligt, hatte Kontakt zum Rockermileu. Zugleich organisiert er für das in Deutschland verbotene „Blood and Honour“-Netzwerk Rechtsrock-Konzerte in Belgien und war Teil der Dortmunder Neonaziszene. Gleichzeitig floss das Geld vom Verfassungsschutz in seine Taschen. An seinen kriminellen und politischen Tätigkeiten hinderte ihn niemand. Man versuchte ihn zu schützen. Erst ein Prozess wegen eines Überfalls auf einen Supermarkt in Dortmund, bei dem ein Neonazi-Kumpan einen Kunden niederschoss, enttarnte den V-Mann Seemann. Das klingt nach Agentenkrimi, es ist aber Teil unserer Realität.
Das zeigt: Das V-Leute-System nutzt den Nazis viel mehr als es ihnen schadet. Auch das NPD-Verbot scheiterte an der Durchsetzung mit V-Leuten. Es muss sofort abgeschafft werden. Nazistrukturen dürfen nicht weiter mit Staatsgeldern unterstützt werden. Alle Argumente der Behörden pro V-Leute sind falsch: Den verfassungswidrige Charakter der Nazis kann ich auch ohne Geheim-Infos belegen. Nazitaten wurden durch Hinweise V-Leute kaum verhindert. Die verhinderten Taten stehen denjenigen entgegen, die mit Duldung oder dank Unterstützung der Geheimdienste durchgeführt werden konnten.
Es ist absurd, dass nun die Sicherheitspolitiker und Überwachungs-Hardliner gerade diesen Behörden mehr Kompetenzen geben wollen. Durch Nazikartei und Gemeinsames Gefahrenabwehrzentrum wird das Trennungsgebot zwischen Geheimdienst und Polizei weiter ausgehöhlt wird. Auch die Vorstöße, die Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen, sind abzulehnen. Mehr Überwachung hilft nicht. Mehr Kompetenzen für die Geheimdienste sind eine Gefahr für die demokratische Gesellschaft,
Aber dabei dürfen wir nicht stehenbleiben: Wir müssen ebenso die sofortige Auflösung der Geheimdienste fordern. Eine Gesellschaft, die sich demokratisieren will, kann sich undemokratische, öffentlich nicht kontrollierte und kriminelle staatliche Strukturen, die scheinbar über Leichen gehen, nicht leisten. Im Kampf gegen Neonazismus und Rassismus ist der Geheimdienst, sind die Verfassungsschutzämter, weder Partner noch Unterstützung noch irgendwie wichtig. Sie stehen der Auseinandersetzung im Weg, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie den Widerstand gegen Rechts diffamieren. Weil sie in ihrer Geschichte schon immer besonders gegen links gerichtet waren. Das müssen wir laut sagen. Sonst wird sich nichts ändern – sonst setzt sich trotz der barbarischen Mordsserie der NSU ein „Weiterwiebisher“ durch.
Für die sofortige Auflösung aller Geheimdienste!
Wir nehmen den Kampf gegen die Nazis in die eigenen Hände!