3 Jahrzehnte Großdeutschland – deutsche Zustände und rassistische Kontinuität nach der Wende
„Wir sind das Volk!“ so schallte es vor 30 Jahren, im Herbst 1989, durch viele Städte der DDR. Die Oppositionsbewegung ging gegen das autoritäre Regime auf die Straße und forderte Teilhabe, Menschen- und Bürgerrechte ein. Im folgenden Jahr entwickelte sich eine Dynamik, die den selbst-proklamierten antifaschistischen Staat erst kollabieren und schließlich im Oktober 1990 in der Bundesrepublik Deutschland aufgehen ließ.
Zu diesem Zeitpunkt war aus der Parole „Wir sind das Volk!“ längst „Wir sind ein Volk!“ oder gleich ein „Deutschland, Deutschland!“ geworden. Bedenken oder Kritik daran wurden im Sieges- oder Freudentaumel weggewischt und als „antideutsch“ abgetan. Unter dem Gefühl des „Wir sind wieder wer!“ konnte endlich wieder unverhohlen dem Nationalismus gefröhnt werden. Die Nation bildete das Dach unter dem sich alle – Wessi und Ossis, Besiegte und Befreite, Euphorische und Frustrierte – zusammen finden und den versprochenen besseren Zeiten und blühenden Landschaften entgegen blicken konnten. Mitgefiebert wurde auch beim „Volkssport“ Fußball – das wiedervereinigte Deutschland wurde 1990 Weltmeister und sorgte so für kollektive Euphorie.
Dieser nationalistische Aufbruch blieb nicht ohne Folgen. Die frühen 90er Jahre waren geprägt von massiver rechter Gewalt in ganz Deutschland: Rassistische, antisemitische, homophobe und politisch motivierte Überfälle durch Neonazis waren an der Tagesordnung. Rassistische Pogrome wie in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda wurden vom Staat nicht unterbunden und von breiten Teilen der lokalen Anwohner*innen zumindest toleriert, wenn nicht sogar mitgetragen. Bei Brandanschlägen wie in Mölln und Solingen wurden ganze Familien gezielt aus rassistischen Motiven angegriffen und getötet. Aus „Wir sind das Volk!“ war nun „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ geworden.
Die Wiedervereinigung war nicht die alleinige Ursache für die massive rechte Gewalt, die eine ganze Generation der extremen Rechten prägen sollte. Sie war aber der Auslöser und sorgte für die notwendigen Rahmenbedingungen. Den Zusammenbruch der DDR und das darauf folgende Vakuum staatlicher Macht nutzten Neonazis aus West- und Ostdeutschland gezielt, um Strukturen aufzubauen und sich durch Gewalt Räume zu sichern. Sie profitierten dabei von verschiedenen Entwicklungen und Faktoren:
Sowohl in der BRD als auch in der DDR waren rechte und rassistische Einstellungen weit verbreitet. Beide Staaten beuteten Gastarbeiter*innen aus und schlossen sie von gesellschaftlicher Teilhabe aus – jeweils auf ganz eigene Art und Weise aber in der Sache doch vereint. Die Folge waren rassistische Diskurse, die zu Diskriminierung, Übergriffen und Mord führten. Alleine in den 80er Jahren töteten Neonazis und Rassist:innen Dutzende Menschen in der BRD bei Brand- und Terroranschlägen. Im antifaschistischen „Bruderstaat“ DDR gehen Forscher*innen von insgesamt bis zu 200 rassistischen Pogromen mit mehr als zehn Toten aus. Eine Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung blieb hier wie dort aus. Auf der einen Seite waren es militante Einzeltäter*innen, die man weit außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verorten konnte, auf der anderen Seite handelte es sich um „Rowdytum“ oder man stellte Ermittlungen im Sinne der guten Beziehungen zu den anderen Bruderstaaten gleich ganz ein.
In den „neuen Bundesländern“ existierte Anfang der 90er noch keine wehrhafte Zivilgesellschaft. Die vom DDR-Regime jahrzehntelang unterdrückte bürgerliche und radikale Linke war vielerorts noch nicht in der Lage, den Neonazis einen breiten Widerstand entgegen zu setzen. Autoritäre Denk- und Erziehungsmuster aus 40 Jahren DDR machten es der extremen Rechten zudem leicht, sich als Ordnungsmacht im politischen wie wirtschaftlichen – der Treuhand sei Dank – Chaos zu etablieren. Einer antiautoritären Linken hingegen wurde zumindest mit Misstrauen, meisten jedoch mit offener Ablehnung begegnet. Gleiches gilt auch für staatliche Stellen: Als während der rassistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen Antifas auftauchten und die Rassist:innen vertrieben, intervenierte die Polizei prompt, während sie den rassistischen Mob tagelang gewähren ließ. Wir danken an dieser Stelle allen, die unter diesen fast aussichtslosen Bedingungen unter hohem persönlichen Risiko geblieben sind und dafür gesorgt haben, dass viele Gegenden “noch nicht komplett im Arsch” sind.
Die Antwort der gesamtdeutschen Gesellschaft und Politik auf die rechte Gewalt Anfang der 90er Jahre war der sogenannte „Asylkompromiss“, mit dem das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft wurde. Begründet mit den ansteigenden Zahlen von Geflüchteten aus dem Balkan und flankiert von rassistischen und sozialdarwinistischen „Das Boot ist voll“-Kampagnen wurde eine Kernforderung der neonazistischen und rassistischen Mobs im neuen deutschen Bundestag feierlich beschlossen. Für die extreme Rechte war dies ein politisches Erweckungserlebnis: Rassistische Gewalt auf der Straße hatte zur Umsetzung politischer Forderungen geführt. Eine Erfahrung, die die extreme Rechte und ihre Taktiken für Jahre prägen und beflügeln sollte – auf dem Silbertablett serviert von den bürgerlichen Parteien.
Passenderweise genau 10 Jahre nach der Wiedervereinigung sah sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder genötigt, anlässlich eines antisemitischen Angriffs in Düsseldorf und angesichts anhaltender rechter Gewalt, einen „Aufstand der Anständigen“ auszurufen. Die zu erwartenden symbolischen Appelle und Programme der Bundesregierung folgten, es blieb aber wie gehabt an antifaschistischen Gruppen und Bündnissen, den Kampf gegen die extreme Rechte zu führen. An vielen Stellen – im Westen wie im Osten – gelang dies Anfang des Jahrtausends auch. Ob durch Bündnisarbeit, Recherche oder direkte Aktionen – die extreme Rechte konnte, insbesondere bei Demonstrationen effektiv sabotiert, blockiert und teils zerschlagen werden. Auch in der Migrations-, Erinnerungs- und Gedenkpolitik wurden durch zahlreiche Initiativen Erfolge erkämpft.
Gleichzeitig jedoch raubte, bombte und mordete der rechtsterroristische NSU unbemerkt von antifaschistischen Strukturen, Medien und der Zivilgesellschaft. Auch deshalb, weil rassistische Stereotype und Denkmuster Opfer und Betroffene zu Verdächtigen werden ließen, während sogenannten „Sicherheitsbehörden“, die es besser wussten, ungefragt geglaubt wurde. Wir nehmen uns als antifaschistische Gruppe nicht aus und sagen in aller Deutlichkeit: Entschuldigung. Ihr, die Betroffenen, seid die Hauptzeug*innen des Geschehens. Wir werden versuchen, euch besser zuzuhören.
So kam es, dass kurz nach den NSU-Morden in Dortmund und Kassel Deutschland unbeschwert sein „Sommermärchen“ in Form der Fußball-WM der Männer im eigenen Land feiern konnte. Unter dem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ in Szene gesetzt, entwickelte sich die WM 2006 zu einem Festival des Nationalismus. Unterstützt von einer gigantischen Werbemaschinerie entdeckten die Deutschen ihr „unverkrampftes Verhältnis“ zur Nation wieder. “Party-Patriotismus” war wieder en vogue: Es galt endlich wieder als völlig normal mit Nationalfahnen an jeder erdenklichen Stelle von Auto und Körper durch die Gegend zu fahren und bei Spielen „unserer Jungs“ gegen „die anderen“ für 90 Minuten getrost jegliche zivilisatorischen Standards zu vergessen.
Die extreme Rechte nutzte diese Situation für ihre Zwecke. So konnten Neonazis auf den Fanmeilen ungestört in der patriotischen Masse mitlaufen, agitieren und diese als Schutzraum für Übergriffe und andere Straftaten nutzen. Wer Kritik an dem nationalistischen Spektakel übte, wurde als Spielverderber*in dargestellt und teils erheblich attackiert – politisch wie auch verbal und körperlich. Das „Sommermärchen“ wollte man sich weder verbieten noch vermiesen lassen.
Die WM 2006 legte so den Grundstein für vieles, was danach folgte. Die unverkrampfte Haltung zur Nation setzte sich in anderen Sportarten und Events fort. Sie verankerte aber vor allem ein kollektives „Wir“ in den Köpfen, das im politischen Diskurs ansprechbar ist. Dabei ist dieses „Wir“ ebenso inhaltsleer wie undefiniert. Das macht es aber so gefährlich. Es definiert sich eben nicht über Grundwerte wie Solidarität und Gleichheit, sondern über den Ausschluss von allem, was nicht dazu gehört. Hier greifen dann rassistische Diskurse und Grundeinstellungen, die immer noch einen Unterschied zwischen „Menschen mit Migrationshintergrund“ und anderen hier Lebenden machen. Es geht eben um „ein Land in dem WIR gut und gerne leben“, und nicht „ALLE“.
An dieses ausschließende „Wir“ appellieren völkische und nationalistische Parteien wie die AfD seit Jahren beständig. Es geht immer darum, was „wir“ gerade bekommen oder eben nicht. Was „denen“ zusteht oder angeblich eben nicht. “Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist” lautet folgerichtig das Kampagnenmotto des Faschisten Björn Höcke von der AfD im Thüringer Landtagswahlkampf.
Mit dem „Sommer der Migration“ 2015, der die tödlichen Mauern der Festung Europa für kurze Zeit zum Schwanken brachte, sind diese Debatten um das „Wir“ das bestimmende Thema in Medien und Politik geworden. Und die Geschichte scheint sich zu wiederholen: Es wird wieder “Wir sind das Volk!” skandiert, die AfD fordert eine “Wende 2.0” – womit sie sicherlich nicht eine Neuauflage der Treuhand meint – und auch die hässlichen Deutschen in Jogginghosen mit Hitlergruß sind wieder zurück: Auf den beispiellosen Sommer der Solidarität mit Geflüchteten folgte eine massive und bis heute anhaltende Welle rassistischer Gewalt. Die etablierten Parteien reagierten hilflos auf die Diskursstrategien und die Gewalt der extremen Rechten. Letztendlich verabschiedeten sie eine Asylrechtsverschärfung nach der anderen. „Wir“ wollen das anscheinend eben doch nicht schaffen.
Gewalt hat sich als Strategie für die extreme Rechte abermals bewährt. Ermutigt von diesem Erfolg treten Neonazis und Rassist:innen immer selbstbewusster und offensiver auf. Mit dem bundesweiten Erfolg der völkisch-nationalistischen AfD sehen sie ihre Zeit wieder gekommen – je nach Coleur bedeutet dies eine friedliche Revolution, Machtergreifung oder gleich den Rassenkrieg. Ein Teil von ihnen, gerade die in den 90er Jahren politisch sozialisierte Generation, hat bereits zu den Waffen gegriffen und zugeschlagen. Und die Mehrheit der Gesellschaft? Schweigt. Selbst der Mord an einem CDU-Politiker wie Walther Lübcke zieht keine größere Debatte oder politische Initiativen nach sich. Stattdessen werden im Bundestag Ordnungsrufe für Antifa-Buttons verteilt. Es ist immer noch deutsch in Kaltland, wo die Ordnung mehr als alles andere zählt.
Kommen wir zu “unserem Wir” – allen, die einen antifaschistischen, solidarischen, feministischen, antirassistischen, kurz emanzipatorischen Grundkonsens teilen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die etablierten Parteien auf die Diskursstrategien, den Nationalismus und die Gewalt der extremen Rechten eine Antwort finden. Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass staatliche Strukturen wie der Verfassungsschutz den Kampf gegen die extreme Rechte ernsthaft und nicht im Sinne des Staatsschutzes führen. Wir müssen stattdessen uns und andere selbst organisieren, informieren und schützen!
Im Mai 1990 demonstrierten in Frankfurt am Main 20.000 Menschen gegen Nationalismus und warnten vor den Gefahren einer schnell vollzogenen Wiedervereinigung. Angesichts der aktuellen Zustände ist ihr Motto leider immer noch aktuell. Es lautete: Nie wieder Deutschland!