Liebe Freundinnen und Freunde,
als wir vom „Keinen Meter“-Bündnis das letzte Mal an diesem Ort protestierten, fand in der Stadthalle eine Wahlkampfveranstaltung zur Bundestagswahl 2017 statt. Eingeladen hatte damals die AfD. Und es stellt sich die Frage, warum nicht auch heute die AfD als Veranstalterin auftritt. Sicherlich, Thilo Sarrazin ist nicht Mitglied dieser Partei und weigert sich noch immer aus der SPD auszutreten – die sozialdemokratische Partei hat es noch immer nicht geschafft, Sarrazin ihrerseits rauszuwerfen.
Sarrazin bleibt also bis auf Weiteres in der SPD – und er denkt gar nicht daran, aktiver Politiker einer anderen Partei zu werden. Das war auch auch vor gut 10 Jahren nicht anders. Damals entbrannten die Sarrazindebatten – ausgelöst durch ein Interview in der Kulturzeitschrift „Lettre International“ und wenig später durch die Veröffentlichung des Bestsellers „Deutschland schafft sich ab“. Im September 2010 ergab eine Meinungsumfrage, dass 18 Prozent der Deutschen eine „Sarrazin-Partei“ wählen würden. Doch diese Partei existierte damals nicht.
Drei Jahre später war diese Partei dann doch gegründet: die AfD. Die AfD-Programmatik weist an vielen Stellen große Übereinstimmungen mit der Weltsicht von Sarrazin auf. Bernd Lucke soll intensiv versucht haben, Sarrazin als Gallionsfigur zur werben. Erfolglos.
Es sei mal dahingestellt, ob sich Sarrazin tatsächlich als Gallionsfigur eignen würde – fest steht, er selbst gefällt sich lieber in der Rolle des „unabhängigen“ Kritikers und angeblichen „Tabubrechers“, der sich parteipolitisch nicht direkt engagiert. Und derweil Millionen mit dem Verkauf seiner Bücher verdient.
Die Resonanz auf seine Bücher wäre auch sicherlich geringer gewesen, wenn er nicht Mitglied der SPD gewesen wäre. Diese Mitgliedschaft reichte in Teilen der Öffentlichkeit schon aus, um seinen Positionen jeglichen „radikalen“ und „rassistischen“ Charakter abzusprechen. Dass sich diese kurzsichtige und politisch naive Einschätzung bis heute hält, zeigte die WN kürzlich in einem Kommentar über unsere Proteste: Gegen die AfD zu protestieren schön und gut, aber Sarrazins Rassismus vorzuwerfen, das ginge dann doch zu weit….
Ebenso unkritisch wird vielfach auf den heutigen Veranstalter der Sarrazin-Lesung, den „Hayek-Club Münsterland“, geblickt. So wie Sarrazin ein Stichwortgeber der AfD ist, so übt die „Hayek-Club“ ein Scharnier zwischen AfD und marktradikalen FunktionärInnen aus der FDP und zum Teil auch aus der CDU. Um auf meine eingangs gestellte Frage nach der AfD zurückzukommen: sie sitzt heute also ebenfalls mit in der Stadthalle.
AfDler bzw. ehemalige AfDler arbeiten auch im Vorstand des Hayeks-Club intensiv und vertraulich mit Mitgliedern und Funktionären aus etablierten, konservativ und liberalen Parteien zusammen. Eine solche offene politische Zusammenarbeit ist bislang noch die Ausnahme.
Eigentlich, so dürfte man meinen, hält die Brandmauer nach ganz Rechtsaußen noch. Doch nicht nur in Sachsen lässt sich ein Aufeinander-zu-gehen dieser Kräfte beobachten, auch der Hayek-Club ist dafür ein Beispiel. Hier werden Netzwerke und Kontakte geknüpft, die später eventuell eine blau-schwarze Koalition – und damit den direkten Zugriff der AfD auf die Regierungsmacht – erleichtern.
Diese Zusammenarbeit ist nicht unumstritten – und nicht auf Münster beschränkt. Über den lokalen Hayek-Clubs firmieren die Hayek-Gesellschaft und die Hayek-Stiftung. Dort krachte es bereits 2015 wegen der politischen Ausrichtung eines großen Teils der Mitglieder. Einige taten sich als offizielle Berater der AfD hervor, andere gaben immer grellere Töne gegen „Zuwanderung“ von sich. Von einer »reaktionäre Unterwanderung« sprach deshalb die damalige Vorsitzende und trat aus. Auch FDP-Chef Christian Lindner verließ den Verein, weil er Gefahr lief, wegen der Hayek-Gesellschaft braune Flecken auf seinem Maßanzug zu bekommen. Andere FDPler wie etwa Christoph Jauch – Feinkosthändler aus dem Kreuzviertel, FDP-Kandidat und sachkundiger Bürger für seine Partei – blieben beim Hayek-Club.
Es drängt sich also die Frage auf, was eint diese Personen?
Nach eigenen Angaben soll der Hayek-Club all diejenigen Miteinander verbinden, die sich selbst in der Tradition von Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises sehen. Die beiden Ökonomen sind die wichtigsten Vordenker des kapitalistischen Marktradikalismus – auch bekannt unter dem Begriff Neoliberalismus.
In seiner 1944 erschienenen Kampfschrift „Der Weg zur Knechtschaft” vertrat Hayek die These, dass jeder staatliche Eingriff in die Mechanismen des Marktes letztlich in einem repressiven Herrschaftsapparat münden würde. Hayek war nicht nur ein vehementer Gegner jeglicher sozialistischer Bestrebungen, sondern lehnte ebenso den Wohlfahrtstaat radikal ab. Alleine der Markt soll es richten, wer dabei auf der Strecke bleibt, ist halt selbst Schuld. Jeglicher staatlicher Eingriff in den Markt sei ein Angriff auf die Freiheit, so Hayek.
Doch was ist das für eine Freiheit, die Hayek und seine Anhänger*innen hochhalten? Die Freiheit, die sie meinen, ist die Freiheit zur möglichst schrankenlosen Ausbeutung von Mensch und Natur durch das Kapital. Die sozialen Rechten der arbeitenden Bevölkerung bedeuten ihnen nichts, sie sehen sie als störend für die „unternehmerische Freiheit“ an. Es ist die Freiheit der ökonomisch Herrschenden sich den größten Anteil am erarbeiteten gesellschaftlichen Wohlstands anzueignen.
Trotz allem vorgetragenen Pathos – dieser Freiheitsbegriff ist rein ökonomisch und interessengeleited. Und um diese Freiheit zu verwirklichen, braucht es keine demokratischen Verhältnisse. Demokratische Verhältnisse können sogar äußerst hinderlich sein. Hayek selbst bekannte 1981: „Persönlich bevorzuge ich einen liberalen Diktator gegenüber einen demokratischen Regierung, der es an Liberalismus mangelt.“
Trotz aller Kritik am eingreifenden Staat, auf dessen repressive Polizeifunktionen wollen die Marktradikalen natürlich nicht verzichten. Sie sind bereit demokratische Bürger- und Freiheitsrechte zu opfern, um die kapitalistische Ordnung aufrecht zu erhalten bzw. um die Profite zu sichern.
Chile unter der Militärdiktatur von General Pinochet entwickelte sich zu einen Laboratorium für die Ideen Hayeks und seiner Schüler*innen. Die Militärs entmachteten die sozialistische Regierung Salvador Allendes und verfolgten die Linke und die Gewerkschaften mit großer Härte. Es folgten viele Jahren des radikalen Sozialabbaus, der Privatisierung und der Deregulierung, die die Reichen noch reicher machten.
Seit den 1980er Jahren fand die neoliberale Ideologie immer stärkere Verbreitung. Sie drang tief in das Alltagsbewusstsein und die Regierungspolitiken ein.
Sie hinterließ ihre Spuren: In der Leistungsideologie und im Fördern und Fordern; im Beharren auf einer „Schuldenbremse“ bei den Staatsausgaben; in Steuererleichterungen für Reiche (Wegfall der Erbschaftssteuer und Verringerung der Spitzensteuersätze bei gleichzeitiger Erhöhung der Mehrwertsteuer); in umfassenden Privatisierungen von staatlichen Unternehmen und Gemeineigentum; in Angriffen auf die Gewerkschaften und Aufrufen zur „Mäßigung“; in den Forderungen, den Gürtel enger zu schnallen, um den Wirtschaftsstandort zu schützen.
Sie sorgte dafür, dass gesellschaftliche Solidarität immer weiter erodierte – und das die Ungleichheit immer stärker zunahm.
Die Folge: Die Hilfsorganisation Oxfam hat geschätzt, dass 2018 das reichste Prozent der Deutschen über ebenso viel Vermögen verfügt wie die 87 ärmeren Prozent der Bevölkerung.
Schon die Regierungen unter Kohl und Schröder waren von einer neoliberal geprägten Wirtschafts- und Sozialpolitik geprägt. Wobei insbesondere die rot-grüne Bundesregierung mit der Agenda 2010 die radikalsten Einschnitte in den Wohlfahrtsstaat vornahm, in dem sie Leistungen kürzte, Sanktionen und Zwang erhöhte, Unsicherheiten und Risiken immer stärker individualisierte, und einen riesigen Niedriglohnsektor schaffte.
Diese Politik verschlechterte nicht nur die Situation von Erwerbslosen sondern sendete auch eine drohende Botschaft an alle, die in Arbeit waren: „Passt auf, sonst seit ihr die nächsten, die ganz nach unten abrutschen werden!“
Aber natürlich vertraten die Bundesregierungen nie die „reine Lehre“ a la Hayek. Soziale Kämpfe, Druck von Gewerkschaften und Interessenverbänden sowie Stimmungen in der Wähler*innenschaft veranlassten sie zu Kompromissen. Exemplarisch lässt sich dies an der ersten Regierung Merkels zeigen, die sich schnell von ihren zuerst vertretenen, besonders marktradikalen und die Reichen begünstigenden Steuerplänen abwandte.
Die Reaktionen auf die globale Finanzkrise und damit zusammenhängende Krise der Staatshaushalte in der Eurozone haben auch zu einem Riss in der ökonomischen Elite geführt. In der AfD sammelte sich seit der Gründung ein bedeutsamer Teil der marktradikalen, neoliberalen Kräfte. Deshalb sind die engen Verbindungen der Partei zu den Hayek-Clubs nicht verwunderlich.
Zwar gibt es in der AfD Flügelkämpfe zwischen Marktradikalen und Völkisch-Nationalen, etwa beim Thema Mindestlohn. In vielen Bereichen der Sozialpolitik sind die Positionen der Flügel aber integrationsfähig.
Die Forderung des marktradikalen Flügels, die staatliche Sozialvorsorge abzubauen und die Familie (d.h. in der Regel: die Frauen) bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Pflege noch stärker in die Pflicht zu nehmen, verträgt sich hervorragend mit den sexistischen Vorstellungen der Nationalkonservativen und Völkisch-Nationalen von einer Rückkehr zu „traditionellen Familienwerten” und Geschlechterrollen.
Neoliberalismus und radikale Rechte – das passt hervorragend zusammen. Das zeigt auch ein Blick auf andere Länder, wo Rechtsaußen-Kräfte an die Regierungsmacht gelangt sind. Egal ob Trump in den USA, Bolsonaro in Brasilien oder die FPÖ in Österreich, sie alle machen eine Politik, die in erster Linie die Interessen der Reichen vertritt.
Da aber von einer marktradikalen Politik nur die wenigsten profitieren und die soziale Verunsicherung und Enttäuschung einer der Gründe sind, warum sich Teile der Wähler*innenschaft von sozialdemokratischen Parteien abgewandt haben, spielen die radikalen Rechten ein altbekanntes, doppeltes Spiel: Da Umverteilung zu Lasten der Reichen von ihnen nicht zu erwarten ist, bleibt ihnen nur die Beschwörung des Nationalismus und das Versprechen „wir sorgen dafür, dass es anderen noch schlechter geht als euch“.
Und je nach Adressatenkreis dieser Versprechungen sind damit nicht nur Geflüchtete oder Migrant*innen gemeint. Ebenso gut lässt sich das Ressentiment gegen Erwerbslose, Hartz IV-Empfänger*innen oder andere arme Menschen mobilisieren.
Diese Strategie der Spaltung und der Angriffe – für die Sarrazin in seinen Büchern mustergültige Beispiele abgibt – dürfen wir nicht zu lassen. Gegen Rassismus, gegen soziale Ausgrenzung! Für ein gutes Leben für Alle!